Teilprojekt 03
Die Pistole des Mars. Zeithistorische Novität und episches Formularium im Frankreich der Frühen Neuzeit
Prof. Dr. Bernhard Huß (Institut für Romanische Philologie, Freie Universität Berlin)
Das Teilprojekt bearbeitet ein Corpus von epischen Texten französischer und lateinischer Sprache aus dem 16. und dem 17. Jahrhundert, die allesamt einerseits auf Darstellungsmodi der klassisch-antikischen Epik zurückgreifen, andererseits aber Themen der unmittelbaren Zeitgeschichte behandeln: Sie vertexten realhistorische Begebenheiten, die zum Zeitpunkt der Textproduktion höchstens einhundert Jahre vergangen sind, manchmal jedoch nur wenige Monate (‚Aktualitätsepik‘). Zum Corpus der Primärtexte gehören insbes.: die Henriaden, Epen über Henri IV, die u.a. Sebastien Garnier (1593/94) und Jean Le Blanc (1604) verfasst haben, sowie die gleichfalls v.a. mit dem Aufstieg von Henri IV und der französischen Geschichte von 1584 bis 1590 befasste Lutetias (1617) von Paulus Thomas d.Ä.; das historisch-chronikalische Epos La Cité du Montélimar (1591) von Alexandre de Pontaymeri; das Eposfragment La France divisée (ca. 1594) von Pierre Boton mit einer kritischen Gesamtschau der politischen Lage im vom Bürgerkrieg geplagten Frankreich des späteren 16. Jahrhunderts; die Borbonias (1623) von Abraham Remmius über die geschichtliche Situation der Jahre 1620/22; die Rupellais (1630) von Paulus Thomas d.J. über den Kampf um La Rochelle in den 1620er Jahren. Ferner werden epische Texte aus der Zeit um 1500, u.a. über die Feldzüge von Louis XII im norditalienischen Raum, analysiert; dies vor allem mit Blick auf den Abgleich der epischen Darstellungsverfahren mit denen der eposaffinen Historiographie des 16. Jahrhunderts. Ziel ist hier die Herausarbeitung eines präziseren Gattungsprofils der Aktualitätsepik, indem die Konvergenzen und Divergenzen mit dem zeitgleichen Diskurs der praktischen Historiographie und der historischen Theoriebildung über Geschichtsschreibung analysiert und somit Gegenstand und Vertextungsverfahren der Epik mit unmittelbarem Zeitbezug klarer definiert werden. Über die Untersuchung komplexerVerschränkungen von ‚alt‘ und ‚neu‘ in den einzelnen Texten der Aktualitätsepik soll zudem erhellt werden, welche historische Gattungskonzeption hinter diesen Texten steht, die in kalkulierter Weise einzelne Elemente des epischen Traditionsreservoirs herausgreifen und fortschreiben, andere dagegen ungenutzt lassen, und inwiefern die historischen Primärtexte in ihrer Hybridität dazu beitragen, dass sich auf der Ebene historischer Gattungsreflexion die Konzeptualisierung von Epik wandelt. Charakteristik, Geschwindigkeit, epochal-diskursive Bedingtheit und etwaige Gerichtetheit dieses Wandels sind hier wichtige Aspekte. Von hoher Bedeutung ist für das Projekt die Frage nach einer wechselseitigen Konditionierung von epischem Formularium und dargestellter historischer Situation im aktualitätsepischen Medium: Der Aktualitätsbezug in epischer Vertextung beeinflusst und modifiziert sowohl die konkrete Ausformung der literarischen Potentialitäten und Gattungsoptionen von Epik als auch die Perspektivierung der realen historischen Vorgänge.